Die 12jährige Farah ist als einziges Flüchtingskind zum neuen Schuljahr in Luxemburg in die Klasse gekommen. Im ersten Monat wird ihr noch besondere Aufmerksamkeit gewidmet, danach erwarten die Lehrer, dass sie in kleinen Arbeitsgruppen mit den anderen ihre Aufgaben erledigt.
Farah: Gestern sollten wir eine Präsentation über Tiere machen. Wir sassen in kleinen Gruppen und ich hatte mich zuerst sehr gefreut: „Toll! Von welchen Tieren sollen wir denn wohl sprechen? Die Lehrerin hat uns ja gar nichts dazu gesagt. Die anderen Kinder in meiner Gruppe riefen laut in die Runde. „Mein Hund“ sagte einer, „Nein, meine Katze“ sagte eine andere und ein drittes Mädchen wollte von ihrem wunderschönen Pony erzählen. Ich schaute zur Lehrerin, aber sie war mit etwas anderem beschäftigt. Warum hat sie uns nicht einfach gesagt, was wir machen sollen? Die Kinder denken, sie wissen es, aber dem ist nicht so. Ich fühle mich einsam und ich vermisse Dibah, meine Katze, die noch immer in Syrien ist.
Die Lehrerin: Farah schafft langsam den Anschluss, sie ist so ein liebes Mädchen. Gestern bat ich die Kinder, eine Präsentation über Tiere zu machen. Es war interessant zu sehen, dass die Kinder ihre eigenen Ideen in den Gruppen einbrachten. Ich habe sie erstmal in den Gruppen reden und alleine zurechtkommen lassen. Farah war allerdings recht ruhig, sie wirkte fast abwesend. Vielleicht haben sie in Syrien keine Haustiere?
Was ist passiert?
Farah sieht ihre Lehrerin als Expertin und Führungskraft. Sie ist daran gewöhnt, dass die Lehrer Erklärungen und Anweisungen, was zu tun ist, geben. Farahs Lehrerin in Luxemburg hingegen möchte, dass die Schüler und Schülerinnen selber die Initiative ergreifen, in Gruppen arbeiten und ihre eigene Arbeit in die Gruppenarbeit einfliessen lassen, damit sie lernen, ihre eigene Meinung zu vertreten und eigenständige Entscheidungen zu treffen. Es sieht so aus, als würde die Lehrerin nur rumsitzen, sie ist aber interessiert und antwortet auf Fragen.
Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
Farah könnte versuchen, ihre Angst zu überwinden, sich unter die anderen zu mischen und ihre Ansicht darzulegen. Sie könnte auch die Lehrerin ansprechen und um Unterstützung bitten. Die Lehrerin könnte mit Farah ein Zeichen abmachen, das Farah nutzt, wenn sie Fragen hat, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.
Die Lehrerin könnte nach der intensiven Anfangsbetreuung Farah eine Zusammenfassung mit den erwarteten Verhaltensweisen in Luxemburg in Form eines Schriftstückes geben, damit Farah das auch mit ihren Eltern diskutiert. Sie könnte auch den Eltern von Farah eine Einladung zu einem Gespräch schicken. Eine weitere Möglichkeit wären wöchentliche Treffen mit Farah, um ihr Feedback zu ihrem Verhalten in der Klasse zu geben.
Erklärung
Luxemburg ist eine recht egalitäre Kultur (Power Distance (PDI) niedrig). Farah kommt aus einer Kultur mit einem hohen Power Distance (d.h. mehr Hierarchie). In Farahs Kultur verlassen sich die Menschen auf die eine Führungsperson, die sich um sie kümmert, und im Gegenzug beweisen sie ihr Loyalität. In der Klasse erlebt Farah eine egalitäre Kultur, in der die Lehrerin eher eine Moderatorin denn eine Führungsperson ist. Die Lehrerin hingegen erwartet, dass die Schüler und Schülerinnen Initiative ergreifen und miteinander in der Gruppe diskutieren. Jeder Schüler, jede Schülerin hat eine eigene Meinung und spricht diese auch laut in der Gruppe aus, um sich mitzuteilen.