
Es ist schon drei Jahre her, dass Xiao von China nach Deutschland gezogen ist. Es gefällt ihr hier. Die letzten zwei Jahre hat sie ein Zimmer in einem kleinen Stadthaus für Studenten gemietet. Sie wohnt im Erdgeschoss zusammen mit einer Mitbewohnerin. Es gibt drei weitere Stockwerke, in denen sechs weitere Mitbewohner leben. Xiao wohnt gerne dort und fühlt sich wie Zuhause.
Doch irgendwann hat das Mädchen, das das gleiche Zimmer wie Xiao gemietet hat, ein anderes, größeres Zimmer in Stuttgart gefunden und zieht aus. Also bekommt Xiao eine neue Mitbewohnerin aus Perù, Maria. Maria und Xiao verstehen sich zunächst gut, aber dann taucht ein Problem auf.
Xiao: Was ist los mit dieser Frau, die gerade bei mir eingezogen ist? Ich muss mich auf meine Prüfungen vorbereiten, weil ich bald mein Masterstudium beenden werde. Wegen des Lärms, den sie ständig macht, kann ich mich kaum auf das Lernen konzentrieren. Ich habe schon einmal versucht mit ihr zu reden, aber jetzt halte ich es für unhöflich, sie noch einmal zu fragen, da sie viel älter ist als ich. Es scheint sie nicht zu interessieren!
Maria: Oh, ich liebe Stuttgart! Es ist so friedlich, und es gibt so viele Orte zu entdecken! Gleichzeitig vermisse ich meine Heimat sehr, vor allem meine Kinder und meine Familie. Ich versuche, so oft wie möglich mit ihnen zu telefonieren, und ich tue mein Bestes, damit sich dieser Ort wie mein zweites Zuhause anfühlt. Die jüngeren Studenten in meiner WG scheinen ein wenig empfindlich zu sein. Es scheint, als hätten sie noch nicht gelernt, wie man ein glückliches Leben zu führt! Ich werde mein Bestes tun und meine Musik etwas leiser spielen, aber ich kann doch nicht aufhören mit meiner Familie zu telefonieren!
Was ist passiert?
Um sich zu Hause zu fühlen, fing Maria an, in ihrem Zimmer Musik zu spielen und jeden Tag zu telefonieren, was in jeder Ecke des Hauses zu hören war. Sie ist an eine sehr lebhafte Umgebung gewöhnt, in der sich Menschen unterhalten, lachen oder streiten, und in der um sie herum ständig Musik läuft. Sowohl Maria als auch Xiao ist kaum bewusst, dass Geräusche in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich wahrgenommen werden können. Obwohl beide Mitbewohnerinnen versuchen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist ihr Verständnis von Lautstärke zu unterschiedlich, um sich auf halbem Weg zu begegnen. Hinzu kommt, dass Maria die Älteste im Haus ist und ihre Mitbewohner, obwohl sie neu ist, für zu jung und unerfahren im Leben hält. Aus diesen Gründen passte Maria ihr Verhalten nur sehr geringfügig an und das Problem blieb bestehen.
Mögliche Lösungen
Der erste Schritt für beide Mitbewohner besteht darin, zu erkennen, dass es einen großen Unterschied zwischen dem gibt, was Menschen als angemessene Lautstärke empfinden. Für die eine Person ist es schön von Musik umgeben zu sein, die ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit und Glück vermittelt. Für andere kann laute Musik zu Irritationen, Konzentrationsschwäche oder Stress führen. Wenn die beiden sich dieses Unterschieds bewusst werden, kann es ihnen helfen zu verstehen, was die Musik für die andere Person bedeutet.
Der zweite Schritt könnte ein „Lautstärkenplan“ sein. Das bedeutet, dass Maria und Xiao bestimmte Zeiten vereinbaren, in denen Xiao in Ruhe lernen kann, und andere Zeiten, in denen Maria so laut Musik spielen und telefonieren kann, wie sie will.
Gleichzeitig ist die Lärmbelästigung so alt wie die Menschheit selbst, auch unter Menschen aus derselben Kultur. Daher müssen die Menschen einige Grundregeln aushandeln. In diesem Fall hat der Vermieter bereits Regeln aufgestellt, die Maria nicht befolgt hat. Das mag mit dem Altersunterschied und dem Gefühl der Autorität zu tun haben. Ein Treffen mit allen Mietern desselben Hauses, um die Regeln festzulegen und/oder die bestehenden Regeln zu verstärken, könnte Maria überzeugen.
Erklärung
Im Sinne des Hofstede-Modells spielen in dieser Geschichte mehrere kulturelle Dimensionen (oder grundlegende Unterschiede) eine Rolle. Der Unterschied in der Wahrnehmung von Geräuschen als angemessen ist hauptsächlich auf zwei Dimensionen zurückzuführen: Kollektivismus und Nachsicht. Im Allgemeinen sind die Menschen in Peru (Kollektivisten) stärker in das Leben der anderen eingebunden. Sie reden, streiten, hören oder spielen viel Musik, während die Menschen in Deutschland (Individualisten) im Durchschnitt mehr für sich behalten. Obwohl Xiao auch aus einer kollektivistischen Gesellschaft (China) kommt, gibt es noch einen weiteren kulturellen Unterschied in der sechsten Dimension von Hofstede: die nachsichtige kulturelle Eigenschaft in der peruanischen Kultur gegenüber einer eher zurückhaltenden, disziplinierten Eigenschaft in der chinesischen Kultur. In einer eher nachsichtigen Kultur kann man eine relativ freie Lebenseinstellung beobachten, in der es in Ordnung ist den menschlichen Impulsen zu folgen, das Leben zu genießen und Spaß zu haben. In einer disziplinierteren Kultur brauchen die Menschen möglicherweise etwas länger, um sich zu öffnen.
Schließlich haben wir gesehen, dass ein Altersunterschied den Dialog und die Einigung unter den Hausbewohnern erschwert hat. Dies deutet auf eine Machtdistanz hin. Maria war nicht damit einverstanden, dass ihre jüngeren Mitbewohner die Autorität hatten, ihr die Hausregeln aufzuzwingen. Die Autorität einer starken Stimmenmehrheit oder die Autorität des Vermieters könnte helfen.