Nabil, Casper und zwei andere Jungen spielen Fussball in der Nähe des Fahrradunterstands ihrer Schule. Casper spielt mit dem Türknauf und plötzlich bricht er ab! Casper lässt ihn fallen und die Jungen rennen weg. Ein Lehrer findet den Türknopf und fragt die Jungen, was passiert sei. Niemand sagt etwas. Der Lehrer schaut streng und Nabil schlägt die Augen nieder.
Nabil: Oh je, der Lehrer ist echt böse. Wenn ich meinen Respekt zeige, dann wird das hoffentlich schnell vorbei gehen. Ich weiss, dass Casper den Türknopf kaputt gemacht hat, aber das sage ich nicht: Casper ist mein Freund!
Lehrer: Das ist deutlich: Nabil traut sich nicht, mich anzusehen. Dann hat er was zu verbergen. Ich bin sicher, dass er den Türknopf abgebrochen hat. Ich kann dem Jungen nicht vertrauen.
Was ist passiert?
Normalerweise fordern Eltern oder Lehrer in Luxemburg ihre Kinder und Schüler auf, ihnen in die Augen zu schauen, wenn sie etwas Ernstes zu besprechen haben. Dahinter steckt die Idee, dass man durch den Augenkontakt besseren Kontakt hat. Auf diese Weise kann man zur anderen Person durchdringen; man könne die „Wahrheit” in den Augen sehen. Nabil hingegen denkt, es ist respektvoll, die Augen niederzuschlagen, der Lehrer interpretiert es jedoch anders: für ihn sieht es aus, als hätte Nabil etwas zu verbergen oder als wäre er sogar respektlos, indem er dem Lehrer nicht in die Augen schaut. Deshalb wird der Lehrer automatisch ihn für schuldig gehalten.
Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
In Luxemburg wird es nicht als mangelnder Respekt angesehen, wenn man einem Erwachsenen oder einer Autoritätsperson in die Augen schaut und Nabil könnte es beim nächsten Mal versuchen. Das trifft auch auf Arbeiter oder Angestellte gegenüber ihren Vorgesetzten zu; oder auch gegenüber dem Leiter einer Asyleinrichtung. Normalerweise wird es gerne gesehen, wenn man dem anderen in die Augen schaut, auch einer Autoritätsperson.
Nabils Lehrer könnte verstehen, dass Nabil gelernt hat, seine Augen niederzuschlagen und dass das nichts mit damit zu tun hat, ob er schuldig ist oder nicht.
Erklärung
Luxemburg ist ein egalitäres Land mit niedriger Machtdistanz (Power Distance PDI-), d.h. Menschen in unterschiedlichen Positionen sehen sich generell trotzdem als gleichberechtigt an. Nabil kommt aus einem Land mit hoher Machtdistanz. In einem Land mit hoher Machtdistanz akzeptieren Menschen eher, dass Macht ungleich verteilt ist: das ist eben so. In diesen Kulturen ist es ein Zeichen mangelnden Respekts, wenn ein Mitarbeiter oder eine jüngere Person dem Vorgesetzten oder Älteren geradewegs in die Augen schaut. Es wird als frech, manchmal sogar als arrogant angesehen.
Luxemburg hat eine niedrige Machtdistanz, in der eine direkte Kommunikation zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter, zwischen Jung und Alt bevorzugt wird: man redet „auf Augenhöhe”, beide sollten offen und transparent sprechen. Auf eine Weise drückt sich Offenheit im Augenkontakt aus. Wird er vermieden, assoziieren es Menschen in Luxemburg häufig mit Schuld oder Respektlosigkeit.